Kommentar |
In diesem Seminar setzen wir uns mit dem in den letzten Jahren vielleicht dominantesten Para- digma der Demokratietheorie auseinander: der deliberativen Demokratie. Im Kern zielt dieser Ansatz darauf, Demokratie stärker gesprächsorientiert zu gestalten (talk-centric), womit in der Regel gemeint ist, dass Bürger:innen einander Gründe schulden für ihre politischen Ansichten und Forderungen (reason-giving requirement). Damit wendet sich die deliberative Demokratie gegen ein Verständnis, das Demokratie auf die Aggregation und Verhandlung von privaten Präferenzen reduziert – und damit gegen die Angleichung von Politik an den Markt. Vielmehr mutet die deliberative Demokratie den Bürger:innen zu, miteinander ins Gespräch zu treten; Erfahrungen und Perspektiven auszut au- schen; die eigenen Privatinteressen zu überschreiten und einander in gemeinwohlorientierter Ein- stellung zu begegnen; einander zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen sowie voneinander zu lernen. Kurzum: Sie mutet den Bürger:innen zu, miteinander zu d eliberieren. Zugegeben: Diese vorläufige, noch recht abstrakte Umschreibung wirft einige Anschlussfragen auf, und weckt zu- gleich den intuitiven Einwand, dass das alles ganz schön idealistisch sei. Entsprechend wollen wir uns in diesem Seminar, ausgehend von den Klassikern des Felds, mit folgenden Fragen befassen: Was ist Deliberation und deliberative Demokratie? (Warum) sollten Menschen miteinander reden, bevor sie kollektive Entscheidungen treffen? Werden Entscheidungen „rationaler“ , wenn Men- schen miteinander reden? (Wie) ist Deliberation möglich angesichts gesellschaftlicher Ungleichhei- ten sowie tief verwurzelter Machtstrukturen und -asymmetrien? Auf welche vordiskursiven Vo- raussetzungen sind Deliberationen angewiesen? Ist Deliberation nutzlos oder gar kontraproduktiv im Kontext unversöhnlicher Uneinigkeit, zunehmender Polarisierung und fake news? Wie kann De- liberation institutionalisiert werden (Stichwort Minipublics), und welche Bedeutung kommt ihr zu im Verhältnis zu anderen Elementen des politischen Systems? Wie zeigt sich Deliberation im All- tag? Wie lässt sich die Qualität von Deliberation messen? Und nicht zuletzt: Welche empirisch be- obachtbaren Effekte hat es, wenn Menschen miteinander deliberieren? Diese und andere Fragen wer- den wir im Laufe des Kurses streifen, wobei ich die Schwerpunktsetzung gerne vom Interesse der Teilnehmer:innen abhängig mache.
Von den Teilnehmer:innen erwarte ich die gründliche Lektüre der anspruchsvollen und umfangreichen, primär englischsprachigen Seminartexte sowie die Bereitschaft, sich in das Seminargespräch einzubringen. Empfehlenswert sind Kenntnisse der Demokratietheorie/Politischen Theorie sowie Grundkenntnisse der empirischen Forschung.
Studienleistung ist ein 2-3seitiger Essay als Vorbereitung für die Hausarbeit. Prüfungsleistung ist die Anfertigung einer Hausarbeit (4000-4500 Wörter) zu einem vorher abgesprochenen Thema (inkl. Vorab-Einreichung eines kurzen Exposés sowie einer vorläufigen Gliederung).
Bei Fragen vorab bin ich zu erreichen unter: aaron.jeuther@uni-muenster.de.
Literatur
Bächtiger, A., Dryzek, J. S., Mansbridge, J., & Warren, M. E. (Eds.). (2018). The Oxford handbook of deliberative democracy. Oxford University Press. Thompson, D. F. (2008). Deliberative democratic theory and empirical po litical science. Annual Review of Political Science, 11, 497-520.
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