Kommentar |
Unser Leben entfaltet sich zwischen unserem Geburts- und Todestag. Zwischen diesen Daten leben wir meist vor uns hin in der Routine des ‚grauen‘ Alltags, die von kalendarisch festgesetzten Feier- und Trauertagen, Fest- und Gedenktagen unterbrochen wird. Daneben gibt es die Tage, an denen sich etwas ganz Besonderes ereignet, denen wir euphorisch entgegenfiebern, oder umgekehrt jene Tage, vor denen uns bang ist, Tage, die uns zufällig zum höchsten Glück befördern oder in die tiefste Krise stürzen. Während wir das Verstreichen von Stunden, Minuten und Sekunden nur mithilfe chronometrischer Geräte genau registrieren können und Wochen, Monate und Jahre zwar planbar, aber nicht in ihre Ganzheit überschaubar sind, ist die Dauer eines Tages augenfällig. Der Tag ist die zeitliche Grundeinheit unserer Existenz, der gemeinsame (Zeit-)Nenner, der Naturzyklen und kulturelle Bedürfnisse nach Sinn, Rahmung und Ordnung miteinander verbindet, so unterschiedlich sie im Detail auch sein mögen. Schließlich ist der Tag mit seinem regelmäßigen und gleichzeitig unerbittlichen Verlauf von den frühen Morgenstunden bis zu der Finsternis der Nacht auch ein Modell für größere Zeitabschnitte, etwa das Jahr (vom Frühling bis zum Winter), ein Menschenleben (von der Geburt bis zum Tod) oder gar die gesamte Geschichte der Welt, sowohl in ihren religiösen als auch in ihren naturwissenschaftlichen Ausdeutungen.
Nicht zufällig bestimmte Aristoteles die Dauer eines „Sonnenumflaufs“ (Poetik, 1449b) so wirkmächtig als Zeitform der Tragödie, entspricht doch der Tag in seinem Bedeutungsreichtum dem für jede Kunst kennzeichnenden Streben nach Sinnkomplexion und Ambiguität. In diesem Seminar wollen wir gemeinsam einige erzählende Texte, Filme und eventuell auch Computerspiele näher betrachten, die sich den Tag als temporalen Rahmen wählen, um uns so den Funktionen und Bedeutungen dieses universellen und kulturprägenden Zeitformats anzunähern.
Vier Dinge vorab:
- Das Seminar ist nicht nur intermedial, sondern auch komparatistisch angelegt. Wenngleich der Fokus auf Kunstwerken aus dem deutschsprachigen Raum liegen wird, werden wir über diesen kulturellen Tellerrand hinausschauen und zumindest einige Blicke in den anglophonen und den mittel- und osteuropäischen Raum werfen.
- Diejenigen unter Ihnen, die es sich vorstellen könnten, zu einem Game zu referieren, bitte ich darum, sich Ende September bei mir zu melden, damit ich den Seminarplan Ihren Interessen entsprechend gestalten kann.
- Das Lesepensum fällt vergleichsweise hoch aus: Wenn Sie es sich nicht vorstellen können, zur einen oder anderen Sitzung einen (max. 230 Seiten langen) Roman zu lesen, dann ist das Seminar eher nichts für Sie. Ich werde mich aber darum bemühen, den Seminarplan so zu gestalten, dass wir zwischen den Romanen eine Verschnaufpause in Form einer Filmsitzung oder eines kürzeren Texts haben.
- Triggerwarnung: In einigen der von uns behandelten Werke finden sich Darstellungen unterschiedlicher Arten sowohl körperlicher als auch psychischer Gewalt. Aus mehreren Gründen werde ich nicht zu jeder Sitzung eine ausführliche Aufschlüsselung mit den entsprechenden Inhalten bereitstellen und belasse es daher bei dieser allgemeinen Warnung.
|