Kommentar |
„Denn mit je größerer Lust wir affiziert werden, zu desto größerer Vollkommenheit gehen wir über und haben folglich um so mehr Teil an der göttlichen Natur; und eine Lust, welche durch die wahre Rücksicht auf unseren Nutzen gemäßigt wird, kann nie schlecht sein“
- Spinoza, Ethik
Begehren ist ambivalent. Ist es das authentischste des Menschen, das vorantreibt und in dessen Erfüllung Glück besteht, das wiederum jede partielle oder falsche Befriedung durchbricht? Oder ist es im Gegenteil das, was stumpf, treibend und unvermittelt, eben noch nicht Mensch sein lässt?
Geht man dem Begehren nach, stößt man von selbst auf die Frage nach dessen Formung und Vermittlung und damit auf die Frage nach der Norm, dem Gesetz dieser Operationen. An dieser Stelle entspringen Kultur und Zivilisation, die jenen Ausgang aus dem Zwang der Unmittelbarkeit markieren, sowie die Möglichkeit der gegenseitigen Anerkennung als Menschen und humaner Beziehungen überhaupt. Das ist der Ort der Befreiung, doch auch von Repression und Gewalt. Darin stellt sich die Frage: Welches Gesetz und welche Gesellschaft vermitteln Begehren adäquat? Und was geschieht dabei mit dem Subjekt?
Im Seminar werden wir zuerst unterschiedliche Theorien rund um Begehren und Affekte und die Frage nach dem Gesetz an der Schnittstelle von Philosophie, Psychologie, Gesellschaftskritik und Kunst studieren. (In unterschiedlicher Intensität werden wir uns Spinoza, Hegel, Kojéve, Freud, Adorno, Marcuse, Lacan, Deleuze, Butler, Heinrich aber auch Surrealist*innen und Situationist*innen anschauen oder streifen).
In einem zweiten Schritt werden wir uns einigen theologischen Fragestellungen widmen mit Bezug auf Ansätze aus Judentum und Christentum. Im Ausgang stellen wir uns die Frage, welche Schule des Begehrens das Christentum sein kann – und wie darin regressive Tendenzen vermieden werden können. |
Literatur |
Referenz- und Erweiterungsliteratur [NB: Wir lesen nicht alles!]
(Sozial)philosophische und psychoanalytische Modelle:
- Jule Jakob Govrin, Begehren und Ökonomie. Eine Sozialphilosophische Studie, Berlin 2020.
- Camille Dumoulié, Le désir, Armand Colin, coll. « Cursus-philosophie », 1999.
- Thomas Khurana, The Self-Determination of Force: Desire and Practical Self-Consciousness in Kant and Hegel, in: International Yearbook of German Idealism 13/2015, 179-204.
- Ludwig Siep, Begehren, Autonomie und Gerechtigkeit, in: Sally Sedgwick & Dina Emundts (Hg.), Begehren / Desire, Berlin 2018, 205-232.
- Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt 1975.
- Judith Butler, Subjects of Desire: Hegelian Reflections in Twentieth-Century France, New York 1987.
- Lea Schlude, Das emanzipatorische Potential der Lust in Adornos negativer Dialektik, in: Trajectoires, Hors série n°4, 2020.
- Iris Dankemeyer, Die Erotik des Ohrs. Musikalische Erfahrung und Emanzipation nach Adorno, Berlin 2020.
- Herbert Marcuse, Philosophie und Psychoanalyse, Hg. P.-E. Jansen, Lüneburg 2002, pp. 147-169.
- Massimo Recalcati, Der Stein des Anstoßes, Lacan und das Jenseits des Lustprinzips, Wien 2018.
- Pierre Dessuant / Bela Grunberger, Narzissmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung, Stuttgart 2000.
Theologische und religionsphilosophische Entwürfe:
- Angelica Löwe /Roman Lesmeister / Daniel Krochmalnik (Hg.), Gesetz und Begehren: theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven, Freiburg 2017.
- Kenneth Reinhard /Julia Reinhard Lupton, The Subject of Religion: Lacan and the Ten Commandments, Diacritics, Volume 33, Number 2, Summer 2003, 71-97.
- Klaus Heinrich: vom bündnis denken. Religionsphilosophie, Frankfurt am Main und Basel 2000.
- Isabella Bruckner, Gesten des Begehrens. Mystik und Gebet im Ausgang von Michel de Certeau, Inssbruck 2022.
- Tina Beattie, Theology after postmodernity: divining the void, Oxford 2013.
- Pierangelo Sequeri, Il Sensibile e l’Inatteso. Lezioni di estetica teologica, Brescia 2016 (In Übersetzung); Id., La fede e la giustizia degli affetti. Teologia fondamentale della forma cristiana, Siena 2020 (In Übersetzung)
|