Kommentar |
Genealogische Praktiken sind eine weit verbreitete, machtvolle Technik der Produktion von Herkunft, Legitimität, Distinktion und Zugehörigkeit. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde aus der Genealogie, die bis dahin eine adelig-dynastische, religiös-bürokratische Arkantechnik und ein Instrument zur Transmission von Erbe, Namen, Nachfolge (z.B. in der bäuerlichen Ökonomie) gewesen war, eine weit verbreitete wissenschaftliche, staatlich-öffentliche und populäre Praxis.
Dabei erhielten das Recherchieren genealogischer Daten in Archiven und die Darstellung von Stammbäumen und anderen Visualisierungen von Familie oder Verwandtschaft auch Auftrieb durch den Medienwandel um 1900, durch die sogenannte Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln, sowie später nochmals durch die Technik der Papierkopie, digitale Datenbanken und Kommunikationstechnologien.
Genealogische Praktiken zirkulierten in und zwischen den natur-, gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Anthropologien, und zwischen der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit (v.a. in Vereinen) und der Verwaltung des modernen Nationalstaats. Jede genealogische Form produziert/e spezifische Personen-, Gesellschafts- und Weltverhältnisse, darunter finden sich großartige Universalismen ebenso wie scharfe Differenzierungskonzepte. Diese Wissenstechniken waren und sind wiederum verknüpft mit dem Wandel des Archivs von einem Herrschaftsarkanum zu einem Datenreservoir für viele.
Zuletzt haben queere Genealogien, die new genetics und neue Grenzregime der Migration tradierte Ontologien von heterosexueller Reproduktion, Familie und Verwandtschaft, Natur und Kultur mit sehr unterschiedlichen persönlichen bzw. politischen Zielsetzungen nochmals in Bewegung gebracht.
Im Seminar werden zunächst Analysekategorien zur Untersuchung von genealogischen Praktiken zu Zeit, Raum, Sozialontologien, Natur, Ökonomie, Performanz, Erinnerung und Tradierung, Subjektivierungsformen in ihrem historischen Wandel und in ihrer gegenwärtigen Ausprägung in Vorlesungsteilen vorgestellt sowie gemeinsam erarbeitet. Im zweiten Teil der Lehrveranstaltung stellen die Studierenden von ihnen ausgewählte Themenfelder anhand von Fallstudien in Form von Referaten vor (Studienleistung), auf dieser Grundlage erarbeiten sie dann die Prüfungsleistung (kommentierte Bibliographie). |
Literatur |
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Teicher, Amir (2020): Social Mendelism. Genetics and the Politics of Race in Germany 1900 – 1948. Cambridge: Cambridge University Press. |