Kommentar |
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling gehört zu den herausragenden Gestalten des 19. Jahrhunderts. Seine Freiheitsschrift ist ein epochemachendes Werk, weil Schelling im Unterschied zu Kant und Fichte Freiheit nicht nur formal bestimmt, sondern auch material als Wahl zwischen Gut und Böse. Schelling zeigt in der Freiheitsschrift, wie die Möglichkeit (Potenzialität) des Bösen im Prinzip der Kontraktion und Selbstbezogenheit des Grundes angelegt ist. Im Gesamtwerk Schellings wird die Freiheitsschrift als Umbruch und Brückenschlag zwischen seiner Früh- und Spätphilosophie angesehen, da einerseits noch Konzeptionen seiner Identitätsphilosophie (d.h. der Einheit von Natur und Geist) spürbar und andererseits schon ein Ausblick auf Schellings spätere Ansätze von geschichtsphilosophischen Überlegungen in den Weltaltern zu erahnen sind.
Schellings freiheitstheoretische Überlegungen fußen auf der Unterscheidung zwischen Gott als Existierendem und Gott als Grund seiner Existenz – er spricht bei dieser Unterscheidung auch vom Prinzip des Verstandes und dem Prinzip des Grundes. Er schafft so eine Teilung (Division) in Gott selbst, die kaum noch Ähnlichkeit mit der traditionellen Auffassung Gottes als causa sui hat, da Schelling davon ausgeht, dass das Prinzip des Grundes etwas Gott selbst Fremdes in Gott bildet, etwas, was er nicht selbst ist, worauf er als Existierender kaum Einfluss nehmen kann. Schelling erklärt, dass dieser Grund Gottes auch der Grund für die Schöpfung der Natur ist. Das Prinzip des Grundes überträgt sich so von Gott auf die Natur. Alles Existierende setzt sich daher aus derselben Dualität von Existenz und Grund von Existenz zusammen. Das Prinzip des Grundes erscheint in der Schöpfung (also in der Natur und zuletzt auch im Menschen) als Prinzip der Kontraktion oder Selbstbehauptung oder als Eigenwillen der Kreatur. Schelling besteht dabei auf der epistemischen Undurchdringlichkeit des Eigenwillens:
„Nach der ewigen Tat der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen lässt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren."
Mit dieser Konzeption einer unüberschreitbaren Erkenntnisgrenze widerspricht Schelling der Hauptaussage von G.W.F. Hegels zwei Jahre zuvor erschienenem Hauptwerk Phänomenologie des Geistes. Hegel hatte den Weg der Erkenntnis des Bewusstseins zum absoluten Wissen aufgezeichnet. Nach Hegel wird sich der Welt-Geist am Ende seiner Entwicklung in der menschlichen Selbsterkenntnis vollkommen transparent. Diese absolute Selbsterkenntnis ist bei Schelling prinzipiell nicht möglich.
Auch der Mensch setzt sich nach Schelling aus den beiden Prinzipien zusammen. Das Prinzip des Grundes beschreibt den Eigenwillen der Kreatur und nimmt im Menschen als Prinzip der Kontraktion oder Selbstbezogenheit den Geist des Bösen an, während das Prinzip des Verstandes den Universalwillen im Sinne von Kants kategorischen Imperativ bildet und im Menschen als Geist der Liebe oder als Prinzip der Selbstlosigkeit verwirklicht ist. In Schellings Konzeption ist der Mensch das einzige Wesen, das eine Wahl treffen kann und muss, wie er die beiden Komponenten in sich anordnet. Stellt er den Geist des Eigenwillens und der Selbstbezogenheit über den Geist des allgemeinen Willens und der Liebe – oder umgekehrt. Im ersten Falle werden die egozentrischen Interessen und die individuelle Selbstbehauptung zur Motivation seiner Handlung. Dies wäre nach Schelling die Möglichkeit zum Bösen und der Grund des Bösen. Umgekehrt tut der Mensch das Gute, wenn er sich aus dem Geist der Liebe zu Handlungen motiviert. Er lässt so die eigenen Interessen in den Hintergrund treten und verhält sich gemäß dem Prinzip des Verstandes vermittelnd und kommunikativ, d. h. verständigend, und am allgemeinen Wohlergehen orientiert.
Die Freiheitsschrift endet, wie die Bibel auch, mit einem Offenbarungsabschnitt. Die Selbstoffenbarung Gottes besteht nach Schelling in einem geschichtlichen Prozess, der seit der Schöpfung in Gang ist und darauf zusteuert, das Prinzip des Grundes, d. h. die Möglichkeit des Bösen, sowohl in Gott als auch in der Natur vollends zu überwinden. Schelling besteht allerdings darauf, dass das Böse nie ganz verschwinden dürfe, da sich die Liebe nur im Kontrast zum Bösen entfalten könne. Schließlich braucht es auch eine angemessene Balance von Grund/Kontraktion und Liebe/Expansion bzw. von Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit. Der Grund bildet also nach dem Prozess der Offenbarung die ewige Potentialität zum Bösen in reiner Egoität, während die Liebe die ewige Aktualität Gottes darstellt. Daher soll im Geist der Grund als Prinzip des Selbststandes und der Selbstbezogenheit unter dem Vorrang der Liebe und dem Allgemeinwillen realisiert werden. Dann wird das Böse vom Guten geschieden und in die bloße Potenzialität des Nichtseins versetzt.
Das Seminar ermöglicht exemplarische Einblicke in dieses bahnbrechende Werk des 19. Jahrhunderts und ist bewusst auf den Dialog zwischen Theologiestudierenden und Philosophiestudierenden in der Aufbauphase angelegt. D. h. die Texte werden auch so behandelt und erläutert, dass sie einem breiteren Publikum verständlich sind. |