In seinem Roman La peste lässt Albert Camus einen städtischen Angestellten auftreten, der einen bedeutenden Roman schreiben will, jedoch nicht über den ersten Satz hinausgelangt: „Par une belle matinée du mois de mai, une élégante amazone parcourait, sur une superbe jument alezane, les allées fleuries du Bois de Boulogne.” (Hand aufs Herz: Würden Sie einen Roman lesen, der mit diesem Satz beginnt?)
Auch beim Schreiben philosophischer Texte kommt es darauf an, diejenigen, die die Lektüre erwägen, schon mit dem ersten Satz in den Bann zu ziehen, sie zum Lesen zu verführen (und vielleicht auch sich selber durch einen Anfang, der bei jedem erneuten Lesen erfreut, zu motivieren, mit dem Schreiben fortzufahren). Nicht weniger wichtig aber ist es auch hier, über den ersten Satz hinauszugelangen – und eben auch: etwas zu sagen und nicht nichts. Wie kann dies alles zugleich gelingen? Wie fängt man einen philosophischen Text an?
Dem Seminar liegt die Vermutung zugrunde, dass sich darüber etwas lernen lässt, indem man analysiert, wie klassische philosophische Texte (aus ganz unterschiedlichen historischen Epochen und Richtungen und von ganz unterschiedlicher ‚Couleur‘) beginnen. Als philosophiehistorische Entdeckungsreise konzipiert, hat das Seminar daher ein doppeltes Ziel: Zum einen soll es – ausgehend von ersten Sätzen, die einem noch nach Jahren im Gedächtnis haften – klassische philosophische Texte jenseits des engeren, häufiger in Seminaren behandelten Kanons erschließen. Zum anderen soll es für die Bedeutung und die Schwierigkeit des Anfangens, einen philosophischen Text zu schreiben, sensibilisieren, unterschiedliche Möglichkeiten, einen philosophischen Prosatext zu beginnen, aufzeigen und nicht zuletzt Lust aufs Selber-Anfangen wecken.
Der Preis für die Teilnahme an dieser Entdeckungsreise ist hoch: Es müssen im Lauf des Semesters mehrere umfangreiche ‚Ganzschriften‘ gelesen werden. Denn geplant ist, dass wir uns jeweils im Wechsel in einer Woche ganz auf den ersten Satz (oder die ersten Sätze) eines Buches konzentrieren und uns in der Folgewoche dann einen Überblick über das betreffende Werk als Ganzes verschaffen.
Da Letzteres nur mit Hilfe gut vorbereiteter Referate und Diskussionsimpulse gelingen kann, wird das Seminar bereits im Laufe des Wintersemesters 2022/23 mit Teilnehmern meines Forschungskolloquiums vorbereitet. Mit ihnen gemeinsam werde ich auch die zu erörternden Anfänge und Bücher auswählen, die deshalb hier noch nicht genannt werden können. Ich bitte Sie aber auch aus einem anderen Grund, Ihre verständliche Neugierde zu zähmen und von Nachfragen nach den Texten, die wir lesen werden, abzusehen: In der ersten Sitzung möchte ich mit Ihnen erproben, wie viel über das in einem Buch verhandelte philosophische Problem sich einem ersten Satz entnehmen lässt, wenn man Autor und Buch nicht kennt.
Studienleistungen können nur seminarbegleitend erbracht werden: Wer Leistungspunkte erwerben möchte, muss insgesamt viermal zu einem vorgegebenen Thema den Anfang eines philosophischen Textes verfassen, der über den ersten Satz hinausgelangt.
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